Rechtsprechung

Auf dieser Seite finden Sie neue und interessante Rechtsprechung zu verschiedenen Fachgebieten,

die ich zu Ihrer Information ausgewählt habe.

Arzthaftungsrecht

Das Patientenrechtegesetz sieht vor, dass vor einer ärztlichen Behandlung eine ordnungsgemäße Aufklärung der Patientin oder des Patienten und seine Einwilligung zur Behandlung vorliegen muss. Der Gesetzgeber wollte damit die Entscheidungsfreiheit und das Selbstbestimmungsrecht  festschreiben.

Im Gesetz steht unter anderem, dass die Aufklärung so rechtzeitig erfolgen muss, dass die Patientin oder der Patient seine Entscheidung über die Einwilligung wohlüberlegt treffen kann (§ 630e Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BGB).

Es stellt sich nun die Frage, wann eine Entscheidung wohlüberlegt ist. Wie lange ist wohlüberlegt?

Mit dieser Frage hat sich der Bundesgerichtshof (Urteil vom 22.12.2022 – VI ZR 375/21) beschäftigt. Das Gericht stellte zunächst fest, dass das Gesetz keinen bestimmten Zeitraum festlegt, es also keine Sperrfrist vor einem Eingriff für die Erklärung der Einwilligung gibt. Vielmehr muss das jede jede Person selbst festlegen. Jede Person muss innerlich frei darüber entscheiden können, ob die beabsichtigte medizinische Maßnahme durchgeführt werden soll. Wann dies der Fall ist, hängt von der betroffenen Person ab. Kann eine Person bereits direkt nach dem Aufklärungsgepräch eine Entscheidung treffen, ist das in Ordnung. Genauso ist es erlaubt, Bedenkzeit zu fordern. Das ist von Mensch zu Mensch ganz unterschiedlich.

Nicht erlaubt ist es, von Personen eine Entscheidung zu verlangen, wenn sie Medikamente nehmen, die Ihre Entscheidung beeinflussen (z. B. Narkose). Auch ist es nicht erlaubt Personen so unter Druck zu setzten, dass es durch die Operationsvorbereitungen zu einem unzumutbaren psychischen Druck kommt. Sie also gedrängt oder „überfahren“ werden. Oder Personen das Gefühl haben, sich nicht aus dem bereits in Gang gesetzten Geschehensablauf lösen zu können. Das Gericht stellte jedoch klar, dass auch in solchen Situationen Personen  das Recht und die Pflicht haben, weitere Bedenkzeit zu fordern. Andernfalls gehen alle anderen davon aus, dass die Person einverstanden ist.

Nur in besonderen Fällen darf von diesen Vorgaben abgewichen werden. Zum einen wenn die Person noch Zeit benötigt und diese von der Ärztin oder dem Arzt erkannt wird. Zum anderen, wenn es sich um einen Notfall handelt oder es der Person an Entschlusskraft fehlt (z. B. bei Bewusstlosigkeit).

 

Bundesgerichtshof (Urteil vom 22.12.2022 – VI ZR 375/21)

Der Kläger eines vom Bundesgerichtshof  entschiedenen Falls wurde im Krankenhaus an der Schulter operiert nachdem er zwei Tage zuvor über den Eingriff aufgeklärt worden war.

Wie verabredet wurde die Operation als Arthroskopie begonnen, um einen deutlich verdickten und chronisch entzündeten Schleimbeutel zu entfernen (Bursektomie), den Raum unter dem Schulterdach zu erweitern (Akromioplastik) und Verklebungen an der Rotatorenmanschette zu lösen. Während der Operation stellte sich zusätzlich heraus, dass die Suprasinaturssehne komplett gerissen war (Ruptur). Um diese wieder annähen zu können, wurde die Operation erweitert, obwohl dies ursprünglich nicht geplant war. Dazu musste ein bereits vorhandener Schnitt erweitert und in mini-OP-Technik die Operation fortgeführt werden.

Es stellte sich nun die Frage, ob der Kläger vor der Operation ordnungsgemäß über die Möglichkeit der Operationserweiterung aufgeklärt wurde und in diese mögliche Vorgehensweise eingewilligt hatte.

Der Bundesgerichtshof stellte fest, dass aufgrund der Angaben auf dem Aufklärungsbogen und der Angaben eines Zeugen eine ordnungsgemäße Aufklärung über die ernsthafte Möglichkeit, den chirurgischen Eingriff zu erweitern und über den Wechsel in eine andere Operationsmethode und die damit verbundenen Risiken aufgeklärt worden ist.

Wäre dies nicht der Fall gewesen, hätte der Operateur die Operation nicht erweitern dürfen, weil der Patient nicht eingewilligt hatte. In einem solchen Fall hätte der Operteur die OP beenden müssen, um die Aufklärung durchzuführen und die Einwilligung des Patienten in die Operationserweiterung einzuholen.

 

Bundesgerichtshof (Urteil vom 21.11.2023 – VI ZR 380/22)

In einem vom Oberlandesgericht Dresden  entschiedenen Fall wurde ein Patient mit der Diagnose Kopfschmerzen von einem Hausarzt an einen Radiologen überweisen. Durch ein MRT sollte geklärt werden, ob es Auffälligkeiten im Schädel des Patienten gab, die zu den Kopfschmerzen geführt hatten.

Der Radiologe machte ein MRT und gab in seinem Arztbrief an den überweisenden Hausarzt an, es hätte keine Auffälligkeiten gegeben. Wie sich später herausstelle sollte, stimmte dies jedoch nicht. Nach einem weiteren CT wurde die Auffälligkeit gefunden und später in einem Krankenhaus operiert. Nach der Operation hatte der Patient eine Gesichtslähmung.

Ein vom Gericht beauftragter Sachverständige stellte fest, dass schon im MRT eine Auffälligkeit zu sehen gewesen sei. Die Auffälligkeit befand sich zwar nicht im Schädel des Patienten, jedoch bei seinem Gehör. Dabei handelte es sich nach den Feststellungen des Gerichts also um einen Nebenbefund oder Zufallsbefund. Denn ursprünglich sollte nur der Schädel untersucht werden.

Diesen Zufallsbefund hätte der Radiologe nach den Ausführungen des vom Gericht bestellten Sachverständigen erkennen und dem Hausarzt mitteilen müssen. Der Hausarzt hätte dann das weitere Vorgehen überlegen können.

Das Gericht bewertete den Fehler des Radiologen als Diagnosefehler. Schadenersatz und Schmerzensgeld erhielt der Patient dennoch nicht.

Die bei ihm nach der durchgeführten Operation aufgetretene Gesichtslähmung hatte nichts mit dem Diagnosefehler des Radiologen zu tun. Bei der Gesichtslähmung handelte es sich nach den Feststellungen des Gerichts um ein allgemeines Operationsrisiko über das der Patient aufgeklärt worden war und das er als mögliches Risiko akzeptiert hatte.

 

Oberlandesgericht Dresden (Urteil vom 10.10.2023 – 4 U 634/23)

Der Europäische Gerichtshof entschied auf Vorlage des Bundesgerichtshofs, dass gemäß Art. 15 Abs. 3 S. 1 DSGVO die oder der für die Datenverarbeitung Verantwortliche auf Verlangen der Patientin/des Patienten eine Kopie der verarbeiteten personenbezogenen Daten zur Verfügung zu stellen habe.

Dies gelte jedoch nur für die erste Kopie. Eine Begründung für die Herausgabe ist nach den Feststellungen des Europäischen Gerichtshofs dazu nicht erforderlich.

 

Europäische Gerichtshof (Urteil vom 26.10.2023 – C-307/22)

Die Krankenkasse soll gemäß § 66 SGB V gesetzlich Versicherte bei der Verfolgung von Schadenersatzansprüchen infolge von Behandlungsfehlern unterstützen.

 

Davon umfasst sind:

 

  • Prüfung der von den Versicherten vorgelegten Unterlagen auf Vollständigkeit und Plausibilität

  • Verschaffung von Auskünften über die vom Arzt gestellten Diagnosen, die angewandte Therapie, die Namen der Behandler, die Anforderung ärztlicher Unterlagen einschließlich Röntgenaufnahmen etc. von der Behandlung

  • Begutachtung durch den Medizinischen Dienst

  • abschließende Gesamtbewertung aller vorliegenden Unterlagen

Nach den Vorgaben des Gesetzgebers soll dem gesetzlich Versicherten eine mögliche Beweisführung bei der Rechtsverfolgung erleichtert werden.

Ist die gesetzlich versicherte Person mit dem Ergebnis des Gutachtens des Medizinischen Dienstes nicht einverstanden, so ist die Krankenkasse nicht verpflichtet, ein weiteres Gutachten einzuholen oder Zeuginnen und Zeugen zu vernehmen.

 

Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen (Beschluss vom 25.05.2023 – L 16 KR 432/22 mit Verweis auf das Urteil des und Hessisches Landessozialgerichts vom 04.05.2015 – L 1 KR 381/13).

Arbeitsrecht

In einem beim Landesarbeitsgericht Hamm verhandelten Fall stellte das Gericht fest, das Überstunden den Freizeitausgleichsansprüchen zuzuordnen sind.

In dem vom Gericht entschiedenen Fall hatten die Parteien in der Vorinstanz beim Arbeitsgericht einen  gerichtlichen Vergleich u. a. mit folgendem Inhalt geschlossen: 

„Der Kläger wird unwiderruflich unter Fortzahlung der Vergütung sowie unter Anrechnung auf etwaig noch offene Urlaubs- und Freizeitausgleichsansprüche bis zum Ende des Arbeitsverhältnisses freigestellt. Die Freistellung gilt für den gesamten noch folgenden Zeitraum vom 10.09.2021 bis zum 30.06.2022.“

In dem beim Landesarbeitsgericht geführten Berufungsverfahren verlangte der Kläger die Vergütung von 553,20 Überstunden bei einem Stundenverdienst von 24,62 €.

Mit seiner Klage hatte er jedoch keinen Erfolg.

Das Gericht stellte klar, dass es sich bei dem obigen Zitat um eine ganz typische Formulierung im arbeitsgerichtlichen Prozess handele. Der  Begriff „Freizeitausgleichsansprüche“ sei weit auszulegen. Damit seien alle Ansprüche gemeint, die als Ausgleich für die überschrittene durchschnittlich erbrachte Arbeitszeit erbracht worden seien, also auch die geleisteten Überstunden.

Landesarbeitsgericht Hamm (Urteil vom 24.03.2023 – 1 Sa 1217/22)

Gegenstand eines beim Bundesarbeitsgericht entschiedenen Fall war die Überstundenvergütung eines Arbeitnehmers. Dieser  war als Auslieferungsfahrer bei einer Firma beschäftigt, bei der er sich bei Arbeitsantritt und Arbeitsende jeweils in ein elektronisches Arbeitserfassungssystem  ein- und ausstempelte. Er verlangte Zahlung eines Betrags in Höhe von 5.222,67 € für die von ihm geleisteten Überstunden. 

Seine Klage hatte keinen Erfolg. 

Das Bundesarbeitsgericht verwies auf die von ihm entwickelten Grundsätze der Verteilung von Darlegungs- und Beweislast im Überstundenvergütungsprozess.

Danach müsse die Arbeitnehmerin oder der Arbeitnehmer dem Gericht zunächst vortragen, an welchen Tagen sie/er von wann bis wann gearbeitet oder sich auf Weisung der Arbeitgeberin/des Arbeitgebers bereitgehalten habe. 

Zusätzlich müsse die Arbeitnehmerin/der Arbeitnehmer vortragen und auch beweisen, dass die Überstunden von der Arbeitgeberin/dem Arbeitgeber angeordnet, geduldet oder gebilligt worden seien. 

Die Arbeitnehmerin/der Arbeitnehmer muss also für jeden einzelnen Tag genaue Aufzeichnungen zum Arbeitstag vorlegen. Nicht ausreichend sei es, anzugeben, welche Zeiten das elektronische Zeiterfassungssystem ausweise.  Vielmehr müsse konkret geschildert werden, wann welche Arbeit erledigt werden sollte und warum dies in der vorgesehenen Zeit nicht möglich gewesen sei. 

Von einer Billigung der geleisteten Überstunden könne nach den Feststellungen des Gerichts ausgegangen werden, wenn die Überstunden durch eine vorgesetzte Person abgezeichnet werden. Eine widerspruchslose Entgegennahme der Notizen über die Überstunden der Arbeitnehmerin oder des Arbeitnehmers sei hingegen nicht ausreichend.

 

Bundesarbeitsgericht (Urteil vom 24.03.2023 – 1 Sa 1217/22)

Das Bundesarbeitsgericht entschied, dass eine arbeitgeberseitige Weisung unter bestimmten Umständen auch durch eine in der Freizeit erhaltenen SMS Gültigkeit haben kann. 

Im entschiedenen Fall existierte eine Betriebsvereinbarung. Auf Grundlage dieser Betriebsvereinbarung wurden unter Einbeziehung der Arbeitnehmenden in der individuellen Jahresplanung Springerdienste festgelegt und vom Betriebsrat genehmigt.

Die konkreten Springerdienste durften nach der Betriebsvereinbarung den Arbeitnehmenden bis 20.00 Uhr des vorherigen Tages mitgeteilt werden. 

Der Kläger war als Notfallsanitäter tätig. In seiner Jahresplanung waren verschiedene Springerdienste vorgesehen. Seine Arbeitgeberin hatte ihm in zwei Fällen gegen Mittag des Vortages per SMS darüber informiert, wann und wo er diese Springerdienste ableisten sollte. Eingehalten hatte der Kläger diese Weisungen nicht, sondern sich am nächsten Tag jeweils zu spät zum Dienst gemeldet. Er war unter anderem der Meinung, dass er in seiner Freizeit derartige Weisungen nicht entgegennehmen müsse.

Das sah das Bundesarbeitsgericht anders. Die Weisung per SMS sei aufgrund der getroffenen Betriebsvereinbarungen zulässig. Die Kenntnisnahme dieser Weisung sei nicht als Arbeitszeit anzusehen.

Bundesarbeitsgericht (Urteil vom 23.08.2023 – 5 AZR 349/22)

Die Arbeitgeberin hatte in diesem vom Bundesarbeitsgericht entschiedenen Fall  in Form von im Betrieb ausgehängten Mitarbeiterinformationen das Verbot für die Arbeitnehmenden ausgesprochen, Handys während der Arbeitszeit zu nutzten.

Der Betriebsrat war der Meinung bei dieser Anweisung handele es sich um ein mitbestimmungspflichtiges Vorgehen. 

Dies bestätigte das Bundesarbeitsgericht nicht.  Danach steht dem Betriebsrat kein Mitbestimmungsrecht zu , wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmern die private Nutzung von Smartphones während der Arbeitszeit untersagt, um eine ordnungsgemäße Arbeitsleistung sicherzustellen.

Durch die Eingrenzung auf die Arbeitszeit werde zudem verdeutlicht, dass Pausenzeiten hiervon nicht betroffen seien.

 

Bundesarbeitsgericht (Beschluss vom 17.10.2023 – 1 ABR 24/22)

Rechtsanwältin Anke Vorrink Rechtsprechung Gericht

Sozialrecht

Das Bundessozialgericht hat in einer Entscheidung festgestellt, dass eine videogestützte Türöffnungsanlage keine Wohnumfeld verbessernde Maßnahme ist. Es handele sich vielmehr um ein Hilfsmittel zum mittelbaren Behinderungsausgleich. Die Krankenversicherung sei zur Leistung verpflichtet, nicht etwa die Pflegeversicherung.

Nach den Feststellungen des Gerichts handele es sich um eine Hilfe für die Wohnumfeld-Verbesserung, wenn diese fest verbaut sei und bei einem Umzug nicht mitgenommen werden könne. 

Aufgrund des technischen Fortschritts könne eine videogestützte Türöffnungsanlage kabellos betrieben werden und müsse nicht verbaut werden. Da diese Voraussetzung fehlte, handelt es sich nicht um eine Maßnahme zur Wohnumfeld-Verbesserung.

Verglichen hat das Gericht die videogestützte Türanlage mit Lichtsignalanlagen für gehörlose Menschen, die ebenfalls in den Leistungskatalog der Krankenversicherung fielen.

 

Bundessozialgericht, Urteil vom 30.11.2023 – B 3 P 5/22 R

Das Landessozialgericht Baden-Württemberg stellte in einem Urteil unter Bezugnahme auf die Vorgaben des Bundessozialgerichts (Urteil vom 07.10.2010 – B 3 KR 5/10 R) noch einmal die Voraussetzungen für die Verordnung eines Therapiedreirads als ärztlich verordnetes Hilfsmittel dar. 

Danach müsse das Therapiedreirad der Sicherung des Erfolgs der Krankenbehandlung dienen. Es dürfe keine ebenso wirksame, wirtschaftlich günstigere Alternative bestehen. Und das Therapiedreirad müsse Teil eines ärztlichen Therapieplans zur Mobilisation sein.

In dem vom Landessozialgericht entschiedenen Fall war die Schwere der Erkrankung des Klägers ausschlaggebend. Aufgrund seiner Erkrankung war von einer dauerhaft notwendigen Physiotherapie auszugehen. Durch die Mobilisation mit dem Therapiedreirad konnte auf zusätzliche Physiotherapiestunden verzichtet werden. Somit konnte die Mobilisation durch die Physiotherapie und die Nutzung des Therapiedreirads parallel erfolgen. Dies war aufgrund der Nutzungsdauer des Therapiedreirads kostengünstiger als zusätzlich Physiotherapiestunden durchzuführen. 

Eine Alternative stellte nach Auffassung des Gerichts  auch ein Heimtrainer („Tischfahrrad“) nicht dar, denn bei dessen Nutzung würden der Gleichgewichtssinn und die Koordinationsfähigkeiten durch gleichzeitiges Lenken und Treten wie bei der Nutzung des Therapiedreirads gerade nicht angesprochen.

Die Nutzung des Therapiedreirads habe als gleichermaßen geeignete und wirtschaftlichere Alternative also Vorrang vor der Verordnung von Physiotherapie.

 

Landessozialgericht Baden-Württemberg, (Urteil vom 17.08.2022 – L 2 SO 63/22)

Das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen hat in einer Entscheidung festgestellt, dass auch blinde Menschen einen Anspruch auf Versorgung mit einem Elektrorollstuhl haben können. 

Ausschlaggebend sind die Umstände des Einzelfalls. 

In dem vom Gericht entschiedenen Fall lag bei dem Kläger eine Einschränkung der Sehfähigkeit von 100 % vor. Zugleich war er aufgrund einer deutlichen Kraftminderung auf einer Körperseite nicht mehr dazu in der Lage, sich außerhalb des Hauses mit dem vorhandenen Aktivrollstuhl in akzeptabler Weise fortzubewegen. Nach den Feststellungen des angehörten Sachverständigen sei die Fortbewegung mit dem Aktivrollstuhl sogar gefährlicher als mit dem Elektrorollstuhl.

Ausschlaggebend war für das Gericht, dass der Kläger ein Langstocktraining und eine Orientierungs- und Mobilitätsschulung durchgeführt und bescheinigt bekommen hatte. Zudem konnte anhand von Videoaufnahmen eindrucksvoll belegt werden, dass der Kläger mit dem Elektrorollstuhl bekannte und erarbeitete Wege sicher zurückzulegen konnte.

Ein Gutachten zur Verkehrstauglichkeit sei daher  nicht notwendig. Entgegen der Auffassung der gesetzlichen Krankenversicherung sei eine Sehbeeinträchtigung kein genereller Grund, eine Verkehrstauglichkeit bei Elektrorollstühlen abzulehnen. Vielmehr gehörten erhebliche Erschwernisse und Gefährdungen bei dessen Nutzung dazu und gehörten zum allgemeinen Lebensrisiko.

Es seit Aufgabe des Hilfsmittelrechts, behinderten Menschen ein möglichst selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen und nicht, den behinderten Menschen von sämtlichen Lebensgefahren fernzuhalten und damit einer weitgehenden Unmündigkeit anheimfallen zu lassen. 

 

Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen  (Beschluss vom 04.10.2021 – L 16 KR 423/20)

Rechtsprechung gemischt

Das Bundesozialgericht hat gleich in drei Fällen (Aktenzeichen: B 3 KR 13/22 R; B 3 KR 14/23 R; B 3 KR 7/23 R) über ein „Handkurbelrollstuhlgerät mit Motorunterstützung“ entschieden. 

Bislang liegen die ausführlichen Entscheidungen noch nicht vor. Die Terminsberichte können aber bereits hier abgerufen werden. 

Das Bundessozialgericht verabschiedet sich gleich von zwei selbst aufgestellten Grundsätzen. 

Die wichtigsten Neuerungen sind wohl, dass diese Hilfsmittel auch über den Nahbereich der Wohnung hinaus genutzt werden dürfen und das Erreichen von Geschwindigkeiten von bis zu 25 km/h einer Versorgung nicht entgegenstehen.

Wir werden Sie an dieser Stelle unterrichten, sobald die ausführlichen Entscheidungen vorliegen. 

Das Bundessozialgericht hat in seinem Urteil zwar aufgrund fehlender Informationen keine Entscheidung zu dem konkreten Fall getroffen, erklärt jedoch noch einmal, welche Voraussetzungen vorliegen müssen, damit eine Anerkennung des Merkzeichens aG vorgenommen werden kann.

Erste Voraussetzung sei, dass eine außergewöhnliche Gehbehinderung mit einer erheblichen Teilhabebeinträchtigung, die dem GdB von mindestens 80 entspricht, vorliegen müsse. Dabei werde der GdB allein auf die Gehbeeinträchtigung bezogen festgestellt, weil eine solch schwere Beeinträchtigung vorliegen müsse, dass schwerbehinderte Menschen sich dauerhaft  nur mit fremder Hilfe oder mit großer Anstrengung außerhalb ihres Fahrzeugs bewegen können.

Diese Feststellung erfolge in drei Schritten. Zunächst würden alle mobilitätsbezogenen dauerhaften Gesundheitsstörungen und die damit einhergehenden Teilhabebeeinträchtigungen ermittelt. Im zweiten Schritt würden diese Gesundheitsstörungen Einzel-GdBs aus Anlage 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung (kurz: VMG) zugeordnet. Als letztes werde der höchste Einzel-GdB bestimmt und nachgeschaut, ob sich mit den anderen Einzel-GdB Überschneidungen ergeben, diese sich decken oder sich sogar verstärken. Maßgeblich sind dabei die bestehenden Beeinträchtigungen und die dafür vergebenen festen GdB-Grade.

Um dies alles beurteilen zu können, müssen Gerichte ärztliches Fachwissen heranziehen. Es werden also die Einzel-GdB nicht einfach zusammen gerechnet, sondern es wird auf Grundlage der obigen Angaben ein mobilitätsbezogener Gesamt-GdB gebildet.

Der früher übliche Vergleich mit sog. Regelfällen findet aufgrund der durch das Bundesteilhabegesetz eingeführten Voraussetzungen nicht mehr statt. Der früher häufig durchgeführte Vergleich mit einem Doppeloberschenkelamputierten findet also nicht mehr statt und ist veraltet. Dies betonte das Bundessozialgericht ausdrücklich.

Bundessozialgericht (Urteil vom 09.03.2023 – B 9 SB 1/22 R)

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